2010-01-03 Abi96_Logo

 

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Die Unsichtbaren

Nun ist es doch so weit: Ich stehe kurz vor dem Abi. Eigentlich kann ich es meistens kaum glauben. Es ging alles so schnell; viel zu schnell. Wenn man an solch einem Punkt seiner Schullaufbahn angelangt ist, denkt man doch schon einmal zurück. Denkt daran, wie alles angefangen hat, an den ersten Schultag, an die Klassenfahrten... Doch vor allem denkt man an sich, wie es einem ging. An die Gefühle, die man hatte, als man mit so vielen unbekannten Menschen in eine Klasse kam.

Heute kann ich sagen, daß genau da alles angefangen hat. Denn dieser Eindruck, der erste Eindruck, den die anderen von mir hatten, war ausschlaggebend für meine Rolle bzw. meine Position in der Klasse. Ich weiß nicht, ob es uns gelingen wird, unsere Erfahrungen und Gedanken klar und allgemeinverständlich darzulegen, so daß dieser Artikel hier nicht mißverstanden wird als Anklage, Vorwurf oder Miesmacherei.

Was wollen wir überhaupt erreichen?

Anfangs hatten wir einige Zweifel, ob sich dieses Thema für eine Abi-Zeitung eignet. Von einer Abi-Zeitung erwartet man sich witzige, nicht zu tiefgängige Artikel voller Anspielungen für Eingeweihte. Eine Abi-Zeitung, so nimmt man gemeinhin an, stellt die Bilanz der gesamten Stufe dar, die nun die Schule verläßt. Doch wer verfaßt die Artikel, die in der Zeitung erscheinen? Meistens eine relativ kleine, “ausgewählte”, sozusagen exklusive Gruppe. Der größte Teil der Stufe mag sich tatsächlich von diesem Werk einiger Weniger repräsentiert fühlen. Doch wer sind die Nicht-Eingeweihten, die, die die versteckten Anspielungen nicht verstehen, die nichts zum “gemeinsamen Werk” beigetragen haben?

“Selbst schuld” - Schließlich konnte doch jeder, der wollte zu den Treffen kommen, einen Artikel einreichen...?

Wir sitzen mit den anderen beim ersten Redaktionstreffen, wie jeder andere auch mit dem Gedanken, uns am Entstehungsprozeß der Abi-Zeitung aktiv zu beteiligen. Doch schon bei der Sitzordnung geht es los. Die “zentralen” Personen sitzen als Gruppe nahe beieinander. Und der Rest - der sitzt außerhalb dieser Gruppe im Raum verteilt.

Wir sitzen auf der Wandseite rechts hinten, am äußersten Rand.

Die Besprechung beginnt. Es werden Aufgaben verteilt. Es scheint schon von vornherein festgelegt zu sein, wer welche Aufgabe übernimmt; zumindest kommt es uns von unserem Beobachtungspunkt am äußersten Rand so vor.

Schon bald verläßt der gute Vorsatz, den wir mitgebracht hatten, still und heimlich den Raum; er traut sich nicht einmal die Tür zuzuschlagen. Uns bleibt nur noch das Zuhören.

Macht man sich selbst zum Außenseiter? Ich glaube, daß das nur teilweise zutrifft. Der Mechanismus, der innerhalb einer Gruppe von Menschen dazu führt, daß sich diese Gruppe auseinanderdividiert in solche, die “drinnen” sind und solche, die “draußen” sind, die am Rande stehen (bzw. sitzen) und zusehen, ist nicht so leicht zu erklären. Es wäre zu einfach, den einen oder den anderen an diesem Prozeß Beteiligten die “Schuld” daran zuzuschieben. Weder kann man den Außenseitern vorwerfen, sie seien “selbst schuld”, noch den anderen, sie hätten die Außenseiter zu Außenseitern gemacht - oder vielleicht beides ein bißchen.

In jeder (?) Gruppe entwickelt sich zwangsläufig (?) schon bald eine ungeschriebene, doch allgemein anerkannte Rangordnung. Die Einordnung in diese Hierarchie erfolgt automatisch und unbewußt. Es beginnt damit, daß man sich irgendwie von den anderen abhebt - z.B. dadurch, daß man stiller oder schwächer ist als die anderen. Die anderen spüren das, und man selbst spürt es auch. Die anderen sehen: “Da ist jemand, der gehört nicht zu uns”, oder: “Die/Der da ist ein bißchen komisch”. Es muß nicht einmal zu offener Feindseligkeit kommen. Man merkt einfach: “Ich bin ein bißchen komisch. Ich bin hier nicht erwünscht”.

Natürlich hat man die Sehnsucht, dazuzugehören, ganz “normal” zu sein. Aber man fängt an, sich zurückzuziehen, und, sozusagen freiwillig, auf Distanz zu gehen.

Und irgendwann beginnt man vielleicht, dieses Gefühl der Fremdheit zu akzeptieren und es zu einem Teil seiner Persönlichkeit zu machen. Man sieht sich selbst als einen neutralen Beobachter, als einen Außenstehenden. - Vielleicht der größte Fehler... Natürlich gibt es auch Situationen oder Momente, wo man denkt: “Jetzt hast du einen Fortschritt gemacht, es hat sich etwas verändert”. Aber dieses Gefühl dauert nur kurz an, und nach einer Weile wird man wieder mit den typischen Situationen konfrontiert, die einem zeigen, daß man noch längst nicht am Ziel ist.

Auf einem Ausflug: Wie von selbst finden sich Achter-Gruppen zusammen. Und wieder sind es die Üblichen, die übrig bleiben. Die letzte Gruppe setzt sich immer aus den üblichen Übriggebliebenen zusammen. Die Gruppe der Uninteressanten und Langweiligen - so komme ich mir zumindest in einer solchen Situation vor. Manchmal hat man das Gefühl, nie aus dieser Schublade herauszukommen, seine anderen Seiten zeigen zu können, egal, wie sehr man sich anstrengt.

Es gibt verschiedene Arten von Außenseitern. Vielleicht kann man im wesentlichen drei “Typen” unterscheiden:

a) die, die gar nicht bemerken, daß sie welche sind;

b) die, die sich mit ihrem “Schicksal” abgefunden haben;

c) die, die sich nicht damit abfinden wollen - das sind wir, deshalb schreiben wir diesen Artikel. Neun Jahre lang haben wir, mehr oder weniger intensiv, um unsere Stellung gekämpft - gegen ein Image, das sich mit den Jahren in den Köpfen der anderen fest eingeschliffen hatte, und, was noch sehr viel schwerer war und ist, gegen unsere eigenen tiefsitzenden Ängste und Hemmungen.

Zurück zum Redaktionstreffen:

Das Gespräch geht weiter. Es wird die Idee besprochen, zu jedem Einzelnen Bemerkungen zu sammeln.Ich bin gar nicht mehr überrascht, als jemand, den ich seit der 5. Klasse kenne, sagt: “Zur Soundso würde mir aber nichts einfallen.” Anscheinend merken manche nicht einmal, daß ich mit im selben Raum sitze. Ich fühle mich noch unsichtbarer als vorher - wenn das überhaupt noch möglich ist.

Es kostet sehr viel Kraft und Ausdauer, sich trotzdem immer wieder von neuem aufzuraffen.

Was wollen wir also ? Warum haben wir ein so starkes Bedürfnis, diesen Artikel zu schreiben?

Ich glaube, wir möchten einfach im Zuge der allgemeinen Schulzeit-Erinnerungs-Welle, die das Abitur meistens auslöst, dafür sorgen, daß auch die “Fraktion derer, die immer im Hintergrund bleiben” einmal zu Wort kommt, der wir, die Autorinnen dieses Artikels, uns (aus Gewohnheit und Solidarität) immer noch zugehörig fühlen, obwohl wir uns, nicht zuletzt mit diesem Artikel, schon ziemlich weit in den Vordergrund gewagt haben. Wir möchten eine etwas deutlichere Spur hinterlassen als die “Unsichtbaren” voriger Jahrgänge, unter deren Fotos in den Abi-Zeitungen sich Unterschriften finden wie: “War die in unserer Stufe?”, und wir möchten das Gefühl haben können, endlich einmal etwas öffentlich zum Ausdruck gebracht zu haben, was uns seit Jahren beschäftigt.

Nachtrag:
Gestern haben wir noch einmal all unsere guten Vorsätze zusammengenommen und sind zum 5. Treffen für die Abi-Zeitung gegangen. Diesmal haben wir uns gleich mit ins Zentrum gesetzt. Unsere Erfahrungen der letzten Tage stehen teilweise im Widerspruch zu diesem Artikel und haben uns noch einmal die - zwar langsamen, aber doch unübersehbaren - Veränderungen unserer Situation zum Besseren in den letzten drei Jahren bewußt gemacht. Wir haben uns entschieden, den Artikel trotzdem weitgehend unverändert einzureichen, weil er nicht speziell auf uns und unsere Stufe bezogen ist, sondern die Erlebnisse und Gefühle vieler Außenseiter beschreibt (und verständlich macht? - Hoffentlich).

Ebru Eraslan

Christina Hansen
                                         

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